Ich sitze mit meinem 9 Euro Ticket im Zug auf dem Weg nach Wilhelmshaven. Ich habe das Glück, noch einen freien Platz ergattert zu haben.

In Hannover beobachte ich die zusteigenden Menschen. Eine junge Frau schmeißt sich völlig genervt auf einen freigewordenen Platz. Ihre Koffer wirft sie vor und neben sich auf den Boden und auf einen Sitzplatz. Sie schnauft, wütet in sich hinein.

Ich bilde mir schnell mein Urteil über sie: „Was für eine anstrengende, nervige, egoistische Frau!“ Bamm! Umgehend habe ich sie in eine Schublade gesteckt.

Ich beobachte, wie eine ältere Frau nach einem freien Platz fragt. Die junge Frau entschuldigt sich, nimmt den Koffer vom Sitz, macht der alten Frau Platz.

Ich werde Zeuge einer interessanten Unterhaltung.

Die junge Frau erzählt von ihrem langen Weg, dass sie schon acht Stunden unterwegs sei. In Oldenburg werde sie endlich nach längerer Zeit ihre Kinder und ihren Mann wiedersehen. Sie sei bei ihren pflegebedürftigen Eltern gewesen, die Hilfe bräuchten. Sie erzählte von der Sorge und ihrer Liebe zu ihren Eltern. Und ich? Mist, schon wieder jemanden voreilig abgestempelt.

Ich erinnere mich an die Worte Jesu aus der Bergpredigt: „Behandelt andere Menschen so, wie ihr selbst behandelt werden wollt.“ Möchte ich von anderen voreilig abgestempelt werden? Nein! Hier beginnt für mich christliches Leben: bedingungslose Zuwendung ohne voreiliges Schubladendenken.